Raketen in der
Oberlausitz
Sowjetische Atomraketen auf dem Truppenübungsplatz Königsbrück
Mitteleuropa im Kalten Krieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg standen sich in
Mitteleuropa riesige militärische Potenziale von NATO und
Warschauer Vertrag direkt gegenüber. Die Trennlinie dieser
Verteidigungsbündnisse verlief bis 1989/90 auch mitten durch
Deutschland. Beiderseits der innerdeutschen Grenze waren
modernste Waffen konzentriert. Darunter befanden sich seit den
1950-er Jahren auch atomare Raketenwaffen unterschiedlicher
Bestimmung.
Königsbrück wurde Standort für sowjetische Raketenkomplexe
Der Truppenübungsplatz in Königsbrück
entstand 1907. Das deutsche Militär nutzte ihn in den 1930er
Jahren auch für Experimente mit ballistischen Fernwaffen. 1934
wurden hier unter Walter Dornberger Pulverwerfer erprobt.
Nach 1945 entwickelte sich Königsbrück zu
einem wichtigen Militärgebiet der sowjetischen Armee in der DDR.
Ab Ende der 1950er Jahre wurde die Gruppe der Sowjetischen
Truppen in Deutschland mit operativ-taktischen Raketen vom Typ
R-11 M Elbrus ausgerüstet.
Ab 1964 kamen diese im westlichen Europa
als SS-1B SCUD-A bezeichneten Waffen auch nach Königsbrück.
Diese Raketen konnten einen nuklearen Gefechtskopf von 50 kt
Sprengstoff TNT bis 180 km weit tragen. Königsbrück (mit Stab
und einer Abteilung) wurde – neben Meißen und Bischofswerda –
zum Standort der 23. Raketenbrigade.
Die dem Oberkommando der GSTD in Wünsdorf
bei Berlin unterstellte Einheit erhielt später weitere
Startrampen und den ab 1967 eingeführten Raketenkomplex R-17
Elbrus (SS-IC SCUD-B). Diese Raketen befanden sich auf einem
vierachsigen Start-fahrzeug. Sie konnten in einer Stunde betankt
und so feuerbereit gemacht werden. Ihr nuklearer Gefechtskopf
mit der Sprengkraft von 80 kt TNT hatte eine Reichweite bis 300
km.
1981 wurde die 23. Raketenbrigade
abgezogen. Nach Königsbrück kam nunmehr die 638. Selbständige
Raketenabteilung. Diese Einheit war der 432. Raketenbrigade
(Wurzen) unterstellt und verfügte über eine neue Generation von
Kurzstreckenraketen.
Das Waffensystem Totschka („Punkt“) war
ebenfalls mobil auf Fahrzeugen stationiert und in wenigen
Minuten startbereit. Mit dem als SS-21 SCARAB-A bezeichnete
System hätte ein nuklearer Gefechtskopf mit der Sprengkraft von
50 kt TNT über Entfernungen von 70 km, später 120 km genau ins
Ziel gebracht werden können. Von solchen Raketen wussten die vom
Übungslärm diverser sowjetischer Einheiten geplagten Anwohner
des Königsbrücker Militärgebietes nichts.
Raketenpoker um Europa mit Folgen in Königsbrück
Herausgefordert durch die 1976 in
westlichen Teilen der Sowjetunion begonnene SS-20-Rüstung – ein
über 5.000 km ganz Westeuropa erreichendes System mit drei
nuklearen Gefechtsköpfen – fasste die westliche Allianz im
Dezember 1979 den so genannten NATO-Doppelbeschluss. Damit
sollte das eigene Mittelstreckenpotenzial durch das Stationieren
von 108 US-amerikanischen Systemen Pershing II und von 464
bodengestützten Marschflugkörpern modernisiert werden. Trotz
öffentlicher Proteste begann 1983 die Stationierung dieser neuen
Mittelstreckenwaffen in Westeuropa. Darauf antwortete die
Sowjetunion wiederum mit neuen nuklearfähigen Raketensystemen –
nun nach Westen vorgeschoben an zwei Standorten in der DDR und
einem in der CSSR.
Die 119. Raketenbrigade in Königsbrück
Um die neuen Raketenbasen der NATO
ausschalten zu können, wurden 1984 zwei „schnelle“ sowjetische
Raketenbrigaden an Doppelstandorten nach Sachsen (Königsbrück –
Bischofswerda) und Mecklenburg (Warenshof –Wokuhl) verlegt.
Als operativ-taktisches System wurden
Feststoffraketen vom
Typ OTR-22
Temp S stationiert. Jene führte
die NATO als SS-12 SCALEBOARD. Diese 12 m langen Raketen waren
auf vierachsigen Startfahrzeugen mobil und reichten bis 900 km
weit. Im gelenkten Anflug – möglich bei dem 1984 eingeführten
Typ Temp-SM = SS-12M – hätte ein nuklearer Gefechtskopf von 500
kt TNT nahezu punktgenau detonieren können.
Im Mai 1984 begann die Stationierung des
Stabes und zweier Abteilungen der 119. Raketenbrigade in
Königsbrück sowie einer Abteilung in Bischofswerda. Zuvor wurden
eilends Bunker aus Fertigteilen auf dem Königsbrücker
Übungsplatz und im Taucherwald bei Uhyst gebaut. Beide Standorte
lösten sich im Diensthabenden System ab, von 15. Juni 1984 bis
zum 2. Februar 1988.
Die Königsbrücker Raketenstellungen lagen
am westlichen Waldrand des Übungsplatzes, 5 km von hier
entfernt, bei der 1938 aufgegebenen Dorfstelle Sella.
Das zweifach gesicherte Objekt führte den
Tarnnamen Puschinka („Flocke“). Dort befanden sich im
Diensthabenden System vier Raketen und nukleare Gefechtsköpfe
nebst Start- und Transportfahrzeugen in Stellung.
Die Sprengköpfe wären im Ernstfall mit
fahrbaren Kränen auf die Raketen gesetzt worden. Unweit der
Bunkergaragen gab es – wie im Taucherwald – vier befestigte
Startplätze. In der höchsten Bereitschaftsstufe waren diese
Raketen schon in fünf Minuten startbereit.
Außerhalb des Diensthabenden Systems
lagerten die nuklearen Gefechtsköpfe im hiesigen Bunkerkomplex
der „Beweglichen Raketentechnischen Basis“. Das damals von
diesem Posten aus bewachte Gelände ist heute nicht öffentlich
zugänglich. Dessen Position war der westlichen Aufklärung genau
bekannt.
Ende der Raketenkrise und Abzug der Sowjetarmee aus Königsbrück
Im Dezember 1987 vereinbarten die
Supermächte USA und Sowjetunion nach langjährigen Verhandlungen,
die beiderseitigen nuklearen Mittel- und Kurzstreckenraketen
abzurüsten. Das INF- Abkommen gilt heute als der erste
tatsächliche Abrüstungsschritt im Kalten Krieg. Vertragsgemäß
wurden auch die in der Oberlausitz als „Nach-Nachrüstung“
stationierten Raketensysteme abgezogen. Dies führte die
Sowjetarmee im Februar 1988 in Bischofswerda wirkungsvoll vor.
Die 119. Raketenbrigade verlegte im Mai
1988 nach Gombori in der damaligen Georgischen Sowjetrepublik.
Im Juli 1988 besichtigten amerikanische
Inspektoren die in der DDR geräumten Raketenbasen. Dass jener
Abzug auch den Königsbrücker Übungsplatz betraf, erfuhren dessen
Anwohner erst zu dieser Zeit aus der Tagespresse. Die
Raketenfahrzeuge hatte jedoch mancher schon gesehen.
Vier Jahre später – im August 1992 – zogen
die letzten sowjetischen Einheiten aus Königsbrück ab. Nach 85
Jahren konnte die Natur auf den Truppenübungsplatz
zurückkehren.
Von Informationstafel am restaurierten
Wachlokal des Lagers für atomare Raketensprengköpfe TÜP
Königsbrück
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